Interviews mit 3PM-Experten

 

Apotheken Umschau, 15. November 2021, Blick in die Glaskugel, Nina Himmer

Professorin Olga Golubnitschaja wurde interviewt

Die Medizinerin und Biotechnologin leitet an der Universitätsklinik in Bonn die Forschungsgruppe für 3P (Prädiktive, Präventive und Personalisierte) Medizin, ist Präsidentin der Europäischen Vereinigung für Prädiktive, Präventive und Personalisierte Medizin (EPMA) und gilt in Deutschland und Europa-weit als Pionierin dieser „3P“-Medizin. „Es ist ein Dilemma, dass wir Krankheiten vorhersagen können, für die es noch keine Therapien gibt. Da besteht ein großer Bedarf an besserer Patientenberatung“, sagt sie.

Für Golubnitschaja lassen sich die drei P, also Prädiktion, Prävention und Personalisierte Medizin, nicht voneinander trennen. „Das Ziel muss sein, Krankheiten vorherzusagen oder ihr Risiko einzuschätzen und gleichzeitig individuelle Lösungen für die Patienten anzubieten“, sagt sie.

Die Spezialistin ist überzeugt, dass die 3P-Medizin das Gesundheitswesen komplett umkrempeln könnte: Weg von einer Medizin, die lediglich auf Symptome reagiert, hin zu einem System, das lange davor eingreift. „Ethisch und ökonomisch ist das meiner Ansicht nach der einzig richtige Weg“, sagt sie und betont, dass man die prädiktive Medizin dafür umfassender denken müsse: Bei Gesunden gelte es, beispielsweise durch Fragebögen und smarte Algorithmen Krankheitsrisiken zu erfassen und zu verringern. Bei Kranken hingegen sei es das Ziel, schwere Verläufe und Folgekrankheiten zu verhindern.

Ihre Forschungsgruppe hat dabei vor allem Volkskrankheiten wie Krebs, Diabetes oder Grünen Star im Fokus. „Diabetes Typ 2 ist ein gutes Beispiel, weil sich das Risiko dafür über den Lebensstil hervorragend beeinflussen lässt und die Krankheit sehr viel weniger Leid verursachen würde, wenn man sie hinauszögern, sie zurückdrängen oder zumindest engmaschig kontrollieren würde“, erklärt die Forscherin. Viele Erblindungen, Amputationen oder Nervenerkrankungen ließen sich so verhindern.

Die Gene allein sind dafür nicht der entscheidende Faktor. Zum einen, weil der Lebensstil die Gene beeinflusst. Zum anderen, weil Genanalysen bisher nur in wenigen Fällen präzise Prognosen liefern: „Wir forschen deshalb mittels Multilevel Diagnostik wie Bildgebung und an komplexen Biomarkern, also Merkmalen im Blut und im Gewebe, die krankhafte Veränderungen anzeigen können.“ Teils werden solche Methoden schon eingesetzt. Bei Krebserkrankungen etwa kann es sinnvoll sein, nach spezifischen Molekülen im Blut zu suchen oder zirkulierende Tumorzellen zu zählen und analysieren, um das Risiko für Metastasen oder einen Rückfall vorherzusagen. „Man darf die Rolle der Gene nicht überschätzen“, so Golubnitschaja.